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Vergiss nicht

„Denk' dran! vergiss nicht...!" Wie oft habe ich diese Aufforderung schon gehört oder selbst gesprochen. Das mit dem Vergessen ist so eine Sache. Der eine vergisst seine Jacke im Bus oder Wartezimmer, die andere vergisst ihre Schwester anzurufen obwohl sie es ihr versprochen hat. „Denke dran, Butter mitzubringen!"- und dann stellt es sich heraus: An alles Mögliche wurde gedacht, nur nicht daran, was nicht vergessen werden sollte.

Schon junge Menschen schreiben sich auf, an was sie zu denken haben, was erledigt oder eingekauft werden soll. „Ich will doch nichts vergessen!"

 

„Ich will doch nichts vergessen", stimmt das? Das stimmt nicht immer. Manches will ich schon vergessen. Es gibt Erlebnisse oder Erfahrungen, an ich nicht erinnert werden will. Zumeist schmerzliche Erfahrungen sind es. Der Rückblick darauf bringt mich wieder durcheinander und wühlt mich auf. Die Erinnerung an schmerzliche Erfahrungen kann mich tagelang beschäftigen und gefangen halten. Manchmal ist es gut, dass ich so vergesslich bin.

 

Andererseits scheinen Erinnerungen auch wieder gut zu tun und zu tragen. Da erfährt eine junge Frau zum Beispiel, die tagtäglich ihre Großmutter im Seniorenheim besucht, wie traurig und auch hilflos deren Situation ist. Wie kann sie ihr noch helfen oder Hoffnung schenken? Soll sie ihr Besserung und Heilung versprechen? Das kann sie nicht.

So kramt sie zu Hause in alten Schächtelchen und findet Fotos. Es sind alte Bilder aus vergangenen Zeiten. Fotos aus der Kindheit und Jugend der Großmutter, Fotos mit jungen strahlenden Menschen bei Festen und Feiern und Ausflügen. Diese Bilder nimmt sie mit und zeigt sie ihr bei all den nächsten Besuchen. Viel reden können die beiden nicht mehr miteinander. Aber sie können sich diese Bilder anschauen und die alte Frau kann sich erinnern an all die schöne Zeit mit Freude, Liebe und Geborgenheit und auch Schaffenskraft. „Es waren doch schöne Jahre, damals. Was habe ich nicht alles an Gutem erfahren? Ich habe erfahren, dass Liebe mich trägt durch mein Leben. Ich habe erfahren, dass Gott mich trägt in meinem Leben." Ein Lächeln huscht ihr über das Gesicht. Und das ist viel mehr, als tröstende Worte erreichen können.

Erinnern kann helfen und auch die Seele tragen, heilen und Gegenwart ertragen lassen.

Auf einem der Fotos, dem Konfirmationsbild, steht hinten der Konfirmationsspruch vermerkt:

 „Lobe den Herren, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat." Wie gut, dass es diese Erinnerung gibt.

Die Erinnerung an das Gute in unserem Leben, an das, was Gott Gutes an uns getan hat, an die Ereignisse, in denen Gott barmherzig an uns gehandelt hat, diese Erinnerung ist notwendig. Das wussten schon die Menschen, die vor mehr als 2000 Jahren diesen Gedanken aufgeschrieben haben.

 

Die Erinnerung an das Gute ist notwendig. Warum? Nach der Sicht der Menschen des Alten Testamentes der Bibel bewegt sich der Mensch durch die Zeiten wie ein Ruderer, der sich rückwärts in die Zukunft bewegt und auf das schaut, was zurückliegt. Er erreicht das Ziel, indem er sich an dem orientiert, was einsichtig vor ihm liegt, die Geschichte. Er orientiert sich an dem, was ihm und anderen Menschen vor ihm im Leben geholfen hat, was getragen und Kraft und Hoffnung geschenkt hat.

Wohl deshalb erinnern sich viele Menschen an die Geschichte und pflegen alte Bräuche oder Gebäude. Weil wir uns in die Zukunft rückwärts bewegen, nicht vorausschauen können, sondern Orientierung, Hilfe, Kraft und Zuspruch aus den Erfahrungen der Vergangenheit, der Menschen vor uns beziehen.

Die Kirchen in unseren Dörfern und Städten erinnern uns an die Treue, Liebe und Kraft, die uns Gott schenkt. Durch die Musik in diesen Kirchen sind wir eingeladen ein zum Lob Gottes, zur Klage, zur Besinnung und zur Ermunterung. Viele Generationen haben dadurch die Lebenszuversicht gewonnen, die sie zum Weg in die Zukunft brauchten.

In diesen Tagen feiern wir das Erntedankfest.

Lobe den Herren, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.

 

Michael Heimann