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An Knotenpunkten des Lebens

„Einsteigen bitte - Zurückbleiben". Ich stehe auf dem Bahnsteig einer U-Bahnstation und warte auf meinen Zug. Eine Bahn fährt ab. Menschen hasten die Treppenstufen hinauf. Die Anzeigentafel rutscht etwas weiter und ich schaue auf die Uhr. „Eigentlich müsste er bald kommen." Ich möchte mit jemanden zu einem schönen und wichtigen Ereignis fahren.

Leute gehen an mir vorbei. Ein kalter Lufthauch weht durch den U-Bahntunnel. Die nächste Bahn kündigt sich an. Sie fährt mit flottem Tempo ein. Die Türen öffnen sich Menschen kommen heraus. Es ist meine Bahn. Eigentlich die letzte, die ich nehmen kann, um nicht zu spät zu kommen. Nur - meine Verabredung ist noch immer nicht da.

Soll ich schon vorfahren? Soll ich dort auf ihn warten? Oder hat er eine andere Bahn genommen und ist schon da? Ich gehe auf die Bahn zu und bin schon mit einem Bein eingestiegen und höre die Ansage: „Einsteigen bitte - Zurückblieben". Ja, was denn nun? Einsteigen oder zurückbleiben. Das Ziel ansteuern und wenn es sein muss vorerst einmal allein. Oder warten und möglicherweise zu spät kommen.

Ich zögere und entschließe mich, als die Warnlampen angehen, schnell ganz hineinzuspringen. Die Türen schließen sich und die Bahn fährt an. Und durch die Fensterscheiben der geschlossenen Tür sehe ich, wie mein Partner die Treppe herunter gelaufen kommen. Viele Leute sind unterwegs. Er sieht mich nicht.

„Einsteigen bitte - Zurückbleiben". Ich habe mich fürs Einsteigen entschieden und bin nun erst einmal allein unterwegs. An der nächsten Station umzukehren, wird nichts bringen. Wir würden uns verfehlen. Ob wir uns am Ziel dann treffen und begegnen und alles so schön werden kann, wie ich mir das vorgestellt habe - ich weiß es nicht. Es kann sein, dass dann alles ganz anders ist und wir uns verfehlen. Jeder von uns seine eigenen Wege geht. Ob es getrennte Wege für immer sind?

„Einsteigen bitte - Zurückblieben". An diese Situation fühlte ich mich gestern erinnert. „An Knotenpunkten des Lebens steigen wir ein, steigen wir aus. Bewegung kostet Kraft und Mut". So klang es in einem Lied des Jugendkreuzweges. „Steigen wir ein, steigen wir aus." Sich zu entscheiden und dann den richtigen Schritt zu tun kostet Kraft und Mut. Ein Gefühl für Sicherheit gehört dazu, das Richtige zu tun. Nicht immer weiß ich, was das Richtige für mich ist. „Soll ich warten, oder soll ich allein das Ziel ansteuern in der Hoffnung, dass wir uns dort wieder über den Weg laufen?" Und ich merke dann auf einmal, dass ich das Gespür dafür verloren habe, was gut für mich und meinen mit mir verabredeten Partner ist. Ein falscher Schritt - und schon ist alles passiert. Ein kurzer Entschluss - und schon kann uns eine weite Entfernung, ein Leben lang trennen. Und dann kann es zu spät sein. Die Reue kommt hinterher.

„An Knotenpunkten des Lebens" - Knotenpunkte im Leben gibt es viele. Bei manchen bemerke ich, dass ich mich entscheiden muss, dass eine wichtige Veränderung bevorsteht. Diese kosten Kraft und Mut. Da ist es gut nicht allein zu sein, sich nicht allein entscheiden zu müssen, den nächsten Schritt nicht allein gehen zu müssen. Bei der Geburt eines Kindes zu Beispiel oder wenn ich im Laufe meiner Entwicklung dabei bin, mich von meinem Elternhaus abzunabeln oder mich entscheiden soll zu einer festen Partnerbindung. „Nicht allein sein, bei dieser Entscheidung, das würde mir helfen."

Knotenpunkte - der Lebensfaden läuft nicht mehr glatt und selbstverständlich durch die Hand. Ich bleibe hängen und halte bemerke Widerstand und halte ein. Das können angenehme Entwicklungen in meinem Leben sein, das können aber auch schwierige Momente sein, wo ich Abschied nehmen muss von bisher gewohnten, wo ich merke, dass mein bisheriger Arbeitsplatz sich anders gestaltet oder ich in den Ruhestand gehen muss. Wer geht da mit mir und begleitet mich in diesen Zeiten?

„Einsteigen bitte - Zurückbleiben". Werde ich allein sein?

In dem Lied, das ich gestern mit vielen anderen gemeinsam gesungen habe, heißt es: „Sei du bei uns Gott!" Und morgen am Palmsonntag wird in den Gottesdiensten in unseren Kirchen die Geschichte von dem entscheidenden Schritt Jesu in die Stadt Jerusalem auf dem Weg zu seinem Ziel gelesen. „Hosianna" rufen ihm die Leute zu. Das heißt: „Hilf doch".

Wie gut, dass ich an vielen Knotenpunkten meines Lebens nicht allein bin. Ich werde bei wichtigen Schritten im Leben von Freunden und der Familie begleitet - bei Taufe, Konfirmation oder Eheschließung. Ich werde begleitet bei den Knotenpunkten, die offensichtlich oder für andere verborgen sind, von Gott. „Hosianna - Hilf doch! Sei du bei uns Gott!" Wenn es wieder für mich heißt: „Einsteigen bitte" und ich den Fuß über die Schwelle setze, ist Gott dabei - auch bei Ihnen.

 

Michael Heimann