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Vorbei die Zeit?

„Meine beste Zeit ist wohl vorbei", denkt sich der Mann, der in seinem Zimmer am Fenster steht und nach draußen schaut. Gestern wurde ihm auf Arbeit mitgeteilt, dass er jetzt in einem anderen Arbeitsgebiet tätig sein wird. Es ist nicht mehr die geliebte Arbeit an dem Programm, in das er sich so gut eingearbeitet hat und dass ihn so mit vielen anderen Kollegen verbunden hat. Akten und Briefe soll er jetzt sortieren und archivieren. Und von diesen türmen sich ganze Berge in dem hintersten Büro auf der Etage.

Das ist genau die Tätigkeit, die bisher immer die Kollegen bekommen haben, die man nicht mehr für so fitt für die Arbeit hält. Mitleidig hatte er sie bisweilen angeschaut. Und jetzt betrifft es ihn. „Die beste Zeit ist wohl vorbei. Jetzt bin ich abgeschrieben, auf dem absteigenden Ast?"

Er schaut aus dem Fenster und denkt an den vergangenen Sonntag. Da gab es eine ähnlich bedrückende Situation. Abschied musste er mit vielen anderen nehmen. Abschied von dem Gemeindehaus der Gemeinde, dass er mit vielen anderen erst vor einigen Jahren unter vielen Mühen und hohem Zeitaufwand aus- und umgebaut hatte. Sie brauchten den Platz in der Gemeinde. Es war so schön in diesem größeren Raum miteinander singen und feiern zu können, sich dort treffen zu können und Gottesdienst feiern zu können. Doch dann kam vor Monaten der Beschluss: „Auf dieses Gemeindezentrum verzichten wir. Wir legen unsere Gemeindearbeit in der Stadt zusammen und konzentrieren uns auf einige wenige Objekte. Sicherlich müssen nun mehr Fahrkilometer zurückgelegt werden. Aber im Gegensatz zu den Anfangsjahren des Gemeindebezirkes vor 70 Jahren gibt es ja nun Autos, mit denen man ins Zentrum fahren kann."

Es war ein bewegender Abschiedsgottesdienst, der am vergangenen Sonntag gefeiert wurde. Die Altargeräte wurden hinausgetragen. Zur Erinnerung blieb ihm nur das Foto, das er noch im Gottesdienst machen konnte. „Das Gemeindehaus hat seine Zeit gehabt", sagte der Pfarrer. Es sollte ein Trost sein. Aber war es das?

Der Mann steht am Fenster und denkt: „Die beste Zeit ist wohl vorbei. Es war schöne gesegnete Zeit und jetzt?" Er erinnert sich an eine Bibelwoche vor 2 Jahren. „Alles hat seine Zeit", hieß es da in einem Text. Er geht zum Wohnzimmerschrank und holt ein Heft heraus, das er sich damals zum Lesen mitgenommen hatte. Er schlägt auf und liest bei Kohelet (Prediger Salomo) im Kapitel 3: „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit. Eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen....eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen...."

„Und meine Zeit jetzt", so fragt sich der Mann, „ist das jetzt die Zeit des Rückzuges und des Abbauens, des Zurücktretens und Aufgebens? Ist die gesegnete erfolgreiche Zeit vorbei? Ist jetzt nicht nur noch trübe Zeit?"

Und er schaut aus dem Fenster und sieht die Wolken am Himmel vorüberziehen. Starke Frühlingswinde lassen wechselhaftes Wetter aufkommen. Es bleibt nicht lange beim Regen oder beim Sonnenschein. Es wechselt sich ab und die Tageszeit beinhaltet so vieles, so vieles an Erfahrungen: Regen und Sonnenschein, Stille und Sturmböe. „Schreibt davon nicht auch der Kohelet in seinen Versen?" Unser Dasein ist alles andere als vorgebliches graues Einerlei. Es beinhaltet so vieles an Erfahrungen, so vieles an Glück und Leiderfahrungen, die sich abwechseln. Es bleibt nicht bei einer Leiderfahrung gänzlich und bestimmend für immer. Neben allem Leid gibt es doch auch auf anderen Ebenen auch Glück und Frohsinn und Hoffnung zu erfahren. Vielschichtig ist unser Leben.

„Alles hat seine Zeit. Ich bin nicht Herr über meine Zeit. Es ist der Schöpfer der Welt, der meine Zeit in seinen Händen hält, sowohl die eine und auch die andere, sowohl die Zeit des Glücks und auch die Zeit der Trauer. Der Schöpfer hält meine Zeit in seinen Händen. Das lässt mich gelassener leben, das lässt mich hier und jetzt leben in der Erwartung, dass Gott wieder angenehme Überraschungen für mich bereithält. Denn diese angenehmen Überraschungen und Erfahrungen wird es geben. Dessen bin ich mir sicher - in meinem Beruf und auch in der Gemeinde. Meine Zeit liegt in den Händen Gottes."

Er schaut aus dem Fenster und sieht wie die Zweige an einem Strauch schon grüne Knospen ansetzen. „Daran will ich in diesem Jahr denken, immer wieder, wenn ich aus dem Fenster schaue: Alles hat seine Zeit und bleibt doch Zeit Gottes für mich. Auch wenn ich unter den jetzigen Verhältnissen leide und mich vielleicht auch wehren muss. Aber auch diese Zeit ist Gottes Zeit für mich."

 

Michael Heimann