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Was ich wert bin

„Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett", so lautete ein Schlager des vergangenen Jahrhunderts. Einen spannenden Krimi am Abend zu schauen, das hatte einmal Konjunktur.

Heute höre ich von Älteren: „Ich mag Krimis am Abend nicht sehen, die regen so auf. Es passiert schon so Schlimmes genug in der Welt!" Und selbst die jüngere Generation bedient sich viel lieber leichter Nachmittags- und Abendunterhaltung im Fernsehen, bei der man nicht viel nachdenken muss, die so „dahinplätschert". Ich erinnere mich, dass ich als Kind oft aus dem Radio der schwerhörigen Nachbarin die Ansage hörte: „Geschichten aus dem alten Berlin". Auch das war leichtere Abendunterhaltung. Warum wurde diese Sendung gehört? Weil es nichts anderes zu hören gab oder weil Gefühle geweckt wurden? Sicherlich nicht, um der Vergangenheit nachzutrauern und die Gegenwart zu beweinen. So anrührend solche Geschichten auch sind. Sie wollen etwas wecken im Menschen: Zuversicht, Hoffnung und Empfindsamkeit für die Liebe, die uns umgibt. Menschen gehen ermutigt und getröstet in die Nacht und in den nächsten Tag.

Wenn in diesen Wochen in verschiedenen Gemeinden Abende zur Bibelwoche stattfinden, werden auch alte Geschichten erzählt. Geschichten von der Befreiung des Volkes Israels aus der Sklaverei in Ägypten. Mose spielt darin eine Hauptrolle. Auch hier wird nicht der Vergangenheit nachgetrauert, sondern es wird die Gegenwart vor dem Hintergrund vergangener Erfahrung neu wahrgenommen.

Zuversicht, Hoffnung und die Empfindsamkeit für die Liebe, die uns umgibt, können dadurch gestärkt werden. Menschen des Volkes Israel haben viele Jahrhunderte später diese Geschichte geschrieben, als sie sich in sehr großer Not und großem Elend befanden. „Es gibt Hoffnung auf Befreiung zu aller Zeit und an jedem Ort. Von Liebe sind wir umgeben. Denn wir haben einen fürsorglichen Gott, der durch eines Menschen Hand viel erreichen kann."

Eine Geschichte ist mir in diesen Tagen begegnet: Ein berühmtes Kloster war in große Schwierigkeiten geraten. Waren die vielen Gebäude früher voller Mönche gewesen, schleppte sich jetzt nur eine Handvoll alter Mönche durch die Kreuzgänge und pries Gott mit schwerem Herzen.

In der Nähe hatte ein alter Rabbi eine kleine Hütte gebaut, um von Zeit zu Zeit dort zu fasten und zu beten. Solange er dort weilte, fühlten sich die Mönche von seiner betenden Gegenwart mitgetragen.

Eines Tages suchte der Abt des Klosters den Rabbi auf. In der Tür umarmten sie sich herzlich und schauten einander lächelnd an. Sie setzten sich an einen Tisch, auf dem die Heilige Schrift geöffnet lag. Sie saßen nicht lange, da bedeckte der Abt sein Gesicht mit den Händen und weinte - weinte wie ein verlassenes Kind. „Du und deine Brüder", begann der Rabbi, „Ihr dient dem Herrn nur mit schwerem Herzen. Ich will dir eine Weisung geben, die du aber nur einmal wiederholen darfst. Danach darf niemand sie je wieder aussprechen." Der Rabbi schwieg eine Weile. Dann sagte er: „Die Weisung lautet: Der Messias ist unter euch!"

Am nächsten Morgen rief der Abt seine Mönche zusammen und erzählte ihnen von seiner Begegnung mit dem Rabbi und auch davon, dass dessen Weisung nie wieder laut ausgesprochen werden dürfe. Dann schaute er die Brüder der Reihe nach an und sagte: „Die Weisung lautet: In einem von uns ist der Messias!" Die Mönche reagierten bestürzt. Wer ist es? Bruder Johannes oder Pater Markus? Oder Bruder Thomas? Seitdem gingen die Mönche ganz anders miteinander um: ehrlicher, herzlicher, freundlicher, ehrfürchtiger, demütiger. Sie lebten jetzt zusammen wie Menschen, die endlich etwas gefunden haben. Die gelegentlichen Besucher zeigten sich betroffen und angesprochen von diesem Geist, der jetzt von den Mönchen ausging. Und es dauerte nicht lange, da kamen die Menschen von nah und fern, und auch die Chorstühle füllten sich wieder. Wie gut, dass der Rabbi dem Abt eine solche Geschichte erzählt hat.

Nun denke ich nicht, dass jeder von uns gleich im nächsten Mitmenschen einen „Messias", einen „Gesalbten Gottes", einen Retter sehen kann. Zu unterschiedlich sind wohl unsere Herkunft und unsere Lebenserfahrung. Aber von einer Gemeinschaft eines Landes, eines Ortes oder einer anderen Gruppe kann eine Ausstrahlung ausgehen, die Menschen fasziniert, wenn wir in Hochachtung einander begegnen. Ehrlicher, herzlicher, freundlicher, ehrfürchtiger, demütiger miteinander umgehen. Was könnte das für ein Wochenende der gegenseitigen Wertschätzung werden!

 

M.Heimann